Tag der Freiheit

von Michael Kunze

Amerikas Bürgerrechtsbewegungen im Internet können ihren ersten großen Erfolg feiern: der Communications Decency Act liegt vorerst auf Eis.

Kein noch so eindrucksvoller Protest hatte die Volksvertreter vom Capitol Hill erschüttern können, als sie mit großer Mehrheit vor wenigen Wochen den CDA verabschiedeten. Nun sieht es so aus, als müßten die Parlamentarier nachsitzen: Vergangene Woche kassierte Richter Ronald Buckwalter einstweilen den höchst umstrittenen Passus des CDA, der den Gebrauch anstößiger (indecent) Sprache unter Strafe stellt. Die Richterentscheidung kam aufgrund der Klage zustande, welche die amerikanischen Bürgerrechtsorganisation ACLU sofort nach Verabschiedung des Gesetzes eingereicht hatte. Das zuständige Bezirksgericht hat die erste Anhörung über den Antrag auf den 21. März angesetzt. Mittlerweile haben sich ACLU und das amerikanische Justizministerium darauf geeinigt, den Vollzug des CDA bis zum Ende der Verhandlung ausszusetzen.

Die Rechtsberaterin der Bürgerrechtsbewegung, Ann Beeson, kündigte überdies Verfassungsklage vor dem Obersten Bundesgericht an, falls die ACLU in erster Instanz verlieren sollte. Sie rechnet damit, daß sich der Supreme Court noch in diesem Jahr mit dem CDA befassen wird. Mittlerweile bekommen die öffentlichen Intitiativen zum Sturz des CDA Schützenhilfe aus der Computerindustrie. Heute will eine Vereinigung von Netzbetreibern, darunter Microsoft, AOL und Compuserve, eine eigene Klage gegen das Gesetz einreichen.

Auch das Netz selbst kommt nicht zur Ruhe: Der HOTWIRED-Kolumnist Dave Winer hatte für das letzte Wochenende zu den 24 Hours of Democracy aufgerufen. Hunderte von Gegnern des CDA hinterlegten daraufhin Web-Dokumente auf einem eigens eingerichteten Rechnerverbund, in denen sie ihre Sichtweise von Internet-Redefreiheit darstellten. Das Spektrum der Beiträge reichte von tiefgründigen Abhandlungen über Kommunikations-Philosophie bis zu leidenschaftlichen Aufrufen basisbewegter Netzaktivisten.
Am meisten überraschte die Teilnahme eines besonders prominenten Autors. Bill Gates gab sich in einem Essay als Kämper für unzensierten Informationsaustausch zu erkennen. Er breitete einmal mehr die Chancen einer vernetzten Demokratie aus, in der der freie Fluß von Meinungen und Wissen nicht nur den gesellschaftliche Diskurs belebt, sondern auch für mehr Chancengleichheit und Lebensqualität sorgt. Gates sieht diese Früchte des Information-Highways vor der Zeit verdorren, wenn die Zensoren im Netz die Oberhand gewinnen.

Ganz uneigennützig mag Microsofts Chef die Rolle des Freiheitsapologeten wohl nicht angenommen haben. Als Betreiber eines eigenen Netzwerkes wäre der Konzern nach der verabschiedeten Fassung des CDA zu aufwendigen Zensuranstrengungen innerhalb des Microsoft Networks verpflichtet. Derartige Maßnahmen gäben dem ohnehin kränkelnden Kind zweifellos den Todesstoß.

Einer der beeindruckendsten Beiträge stammt allerdings von einem Computerprominenten, dem man derart Kalkül nicht mehr unterstellen muß: Philippe Kahn, ehemaliger Eigentümer und Chef von Borland, erzählte eine kleine, aber sinnfällige Anekdote aus seiner Jugend. Zum Schluß zitierte er seine Mutter mit denWorten: "Der Preis unserer Freiheit besteht in der Bürde, auch die übelsten öffentlichen Äußerungen ertragen zu müssen. Wer einmal mit Zensur anfängt, wird nie mehr wissen, wann und wo er damit aufhören muß".

Dem ist nichts hinzuzufügen.

DER SPIEGEL 9/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags




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