Angst vor der Anarchie
Internet (III): Politik
im Cyberspace - Visionäre, Verbrecher und Zensoren kämpfen um
Macht
Die Bombenbastler hatten Elektrokabel, Diesel und Düngemittel beiseite
geschafft, Material für einen Sprengsatz, den sie bald hochgehen lassen
wollten. Ziel ihres Anschlags war die Pine Grove Junior High School in einem
Arbeiterviertel von Syracuse (164 000 Einwohner) im US-Bundesstaat New York.
Der Plan, die Schule zu sprengen, flog auf. Anfang vergangenen Monats nahm
die Polizei drei 13jährige Jungen als mutmaßliche Täter
fest. Mitschüler, die von den Bombenexperimenten der drei
Achtkläßler
wußten, hatten Alarm gegeben. Kurz zuvor war ein Sprengkörper
auf einem Acker nahe einer Grundschule explodiert - offenbar hatten die
drei Verdächtigen einen ihrer Diesel-Cocktails ausprobiert.
Auf die Anleitung, wie sich aus harmlosen Grundstoffen eine Bombe herstellen
läßt, waren die 13jährigen im Internet gestoßen, das
sie an ihren heimischen Computern durchstöberten. Lange suchen mußten
sie nicht: Brisante Basteltips sind auf zahllosen Rechnern gespeichert.
Zu den wohlbekannten Dateien der Cyberwelt zählt zum Beispiel das
"Anarchistische
Kochbuch" mit vielen Explosiv-Rezepten.
Die Bombenbauerei von Syracuse verstärkt Befürchtungen, die auch
in Deutschland immer mehr Menschen erfassen. Wenn der weltumspannende Datenstrom
in Kinder- und Klassenzimmer vordringt und dort die Computer mit
gefährlichen
Botschaften anfüllt, fühlen sich viele Eltern, Lehrer und Politiker
überfordert und bedroht.
Die Ängste sind verständlich, auch wenn jene, die in die elektronische
Wunderwelt eingeweiht sind, sie zumeist für übertrieben halten.
Wer sich ins Internet einloggt, begibt sich in ein Reich der Anarchie, in
dem jeder über alles sprechen kann - aber niemand hat das Sagen. In
dieser Metropolis ohne Mittelpunkt liegen die Schmuddelecken gleich neben
den Villenvierteln, politische Extremisten marschieren ebenso frei über
die Straßen wie der deutsche Bundeskanzler oder bekiffte Propheten,
die von "Peace, Love & Unity" jetzt sofort für alle
künden.
Auf jeder Seite des World Wide Web (WWW), dem belebtesten Marktplatz im
globalen Netz, lauert ein Angebot - womöglich ein unsittliches. Und
hinter den bunten WWW-Oberflächen liegt ein Schattenreich, das sich
fast jedem staatlichen Zugriff entzieht: eine Welt digitaler Waffen,
verschlüsselter
Botschaften und gerissener Datenjäger.
Hacker dringen durch Telefonleitungen in fremde Computer ein, Verbrecher
verabreden am Rande des Datenhighways kriminelle Geschäfte. Und auch
die Geheimdienste, die ihre mehr oder minder legitime Neugier befriedigen
wollen, schwimmen im globalen Info-Strom wie Fische im Trüben.
Es gibt, so scheint es, viel zu regeln im größten und verworrensten
Kommunikationssystem, das auf der Erde installiert ist. Doch niemand weiß
genau, welche Regeln gelten sollen. Und ob sie, wenn es sie gäbe,
überhaupt
durchsetzbar wären, ist erst recht unbekannt.
In einer Mischung aus Respekt, Verwunderung und Sorge starren Parlamentarier
und Juristen auf die neue bunte Cyber-Welt, die sich auch in Deutschland
immer schneller ausbreitet. Zwar denken Bonner Politiker bereits über
ein Multimedia-Gesetz nach, doch außer einem Namen ist den Ministerialen
dazu noch nicht viel eingefallen.
In ihrer Not versuchen deutsche Staatsanwälte, die bestehenden Gesetze
auf das globale Netz anzuwenden. Doch so recht passen wollen die Paragraphen
nicht. Die Verfahren sind zwar noch anhängig, haben den Beamten aber
schon eine Menge Ärger eingebracht. Selbst Bundesjustizminister Edzard
Schmidt-Jortzig (FDP) sieht die Chancen für eine Verurteilung als
ungewiß.
Ende 1995 leiteten Ermittler in München ein Strafverfahren gegen die
Verantwortlichen des Online-Dienstes
Compuserve ein. Das Unternehmen verschafft wie auch andere Netzwerker
seinen Kunden Zugang zum Internet.
Die Münchner Fahnder stießen sich an sogenannten Newsgroups,
virtuellen Treffpunkten, an denen sich die User mit allerhand Nützlichem
und viel Unnützem versorgen können - darunter auch verbotener
Pornographie. Die Staatsanwälte übergaben den Compuserve-Managern
eine Liste mit rund 200 Newsgroups, deren Titel Jugendgefährdendes
versprachen.
Die Compuserve-Zentrale im US-Bundesstaat Ohio reagierte prompt. Sie sperrte
auf ihrem Zentralrechner den Zugang zu den beanstandeten Internet-Gruppen,
über die etwa Kinderschänder Texte und Bilder aller Art feilboten.
Die Maßnahme löste einen weltweiten Proteststurm aus.
Internet-Freidenker
demonstrierten gegen Zensur, die bayerische Justiz und den willfährigen
Netzanbieter Compuserve. Mitglieder der Gruppe "Amerikaner für
Schwulenrechte" riefen zum Boykott von deutschem Bier auf.
Inzwischen sind die meisten inkriminierten Newsgroups zwar wieder zugeschaltet,
nur fünf Hardcore-Gruppen bleiben gesperrt. Doch die Kernfrage ist
noch ungeklärt: Muß der Anbieter eines Internet-Zugangs auch
Verantwortung für die auf dem weltweiten Netz abrufbaren Inhalte
übernehmen?
Wenn ja, dann käme ein Anbieter - im Fachjargon Provider genannt -
einem Kioskbetreiber gleich, der zwar auch nicht jede Zeitschrift einzeln
prüfen muß, aber keine verbotenen Blätter verkaufen darf.
Wenn nein, wäre der Provider wie die Telekom oder wie die Post einzustufen,
die weder für obszöne Anrufe noch für frei Haus gelieferte
Briefbomben verantwortlich sind.
Um eine Entscheidung haben sich Parlamente und Gerichte in Deutschland bisher
gedrückt. Politiker aller Couleur wollen die Internet-Anbieter am liebsten
von Restriktionen frei halten.
So sieht der liberale Justizminister
Schmidt-Jortzig im Cyberspace einen "Raum, wo jeder nach seiner
Fasson glücklich werden kann" (SPIEGEL 11/1996). Auch die konservative
bayerische Staatsregierung erklärt, "daß nicht generell
die Anbieter von Zugängen zum Internet für alle Inhalte des Netzwerks
verantwortlich sind".
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber betreibt zweideutige Politik.
Zwar eifert der CSU-Politiker gegen Schmutz aus dem Internet. Doch vor allem
denkt der Landeschef an die heimische Wirtschaft, der er mit seiner "Offensive
Zukunft Bayern" ein "in ganz Deutschland einzigartiges
Innovationsprogramm"
verschreiben will. Stoibers Kronzeuge ist Franz Josef Strauß selig.
Der einstige große CSU-Vorsitzende kommt auf den WWW-Seiten der bayerischen
Staatsregierung mit dem Aphorismus zu Wort: "Konservativ sein heißt
an der Spitze des Fortschritts marschieren." Strenge Moral ist da mitunter
störend.
Zum bayerischen Fortschritt gehört, daß jeder Bewohner des Landes
auf Wunsch einen kostenlosen Internet-Zugang bekommen soll: Schon kommenden
Monat nimmt das sogenannte Bayernnetz seinen vollen Betrieb auf. Dann ist
der Freistaat Provider - Pornos inklusive.
Weil er für den Schweinkram aus der Buchse keine Verantwortung
übernehmen
will, drängt Stoiber auf "international wirksame Vereinbarungen,
um die weltweite Verbreitung von Pornographie und Gewaltkriminalität
zu unterbinden". Wie das gehen soll, muß erst noch eine Arbeitsgruppe
klären.
Die weltweite Ächtung bestimmter pornographischer Darstellungen könnte
zwar mit viel Mühe gelingen, da Praktiken wie Sex mit Kindern kaum
irgendwo toleriert werden. Ziemlich allein aber bleibt die deutsche Justiz
bei einem nationalen Sonderthema: der Verfolgung von Rechtsextremisten,
die in den Datennetzen ihr Unwesen treiben.
Die Staatsanwaltschaft in Mannheim hat trotz schwieriger Gesetzeslage ein
Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die badischen Beamten hatten entdeckt,
daß Neonazis wie Ernst Zündel und Fred Leuchter, die in Kanada
und den USA ansässig sind, ihre in Deutschland verbotene Propaganda
längst via Internet verbreiten - ganz einfach abrufbar von jedem
Anschluß.
Die Strafverfolger ermitteln nicht nur gegen die altbekannten Extremisten,
die in Amerika vor deutschen Behörden sicher sind, sondern auch gegen
die drei größten inländischen Online-Dienste Compuserve,
T-Online und AOL Bertelsmann Online. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zur
Volksverhetzung.
Der Mannheimer Staatsanwalt Hans-Heiko Klein, der auch gegen extremistische
Mailboxen vorgeht (siehe Grafik), stützt sich auf seine Amtspflicht:
"Wenn draußen jemand Nazischriften verteilt, muß ich hinterher.
Es kann doch nicht sein, daß sich einer das gleiche Zeug gemütlich
auf seinen Computer lädt und grinst."
Der Provider T-Online blockierte nach dem Vorstoß der Staatsanwaltschaft
prompt alle Verbindungen zum Internet-Rechner "Webcom" in Kalifornien,
auf dem Zündels elektronisches Archiv lagert - gemeinsam mit den Daten
von rund 1500 anderen Programmanbietern.
Doch trotz der Sperre blieben die Dateien des Neonazis über T-Online
abrufbar. Amerikanische Studenten, selbsternannte Kämpfer für
die Meinungsfreiheit, kopierten Zündels braune Hetzschriften auf ihre
Universitätsrechner. Die Inhalte waren für sie Nebensache, es
ging ums Prinzip, erklärte ein Student der Carnegie Mellon Universität
in Pennsylvania: "Ich bin gegen Zensur."
Die Vorstöße der Strafverfolger in Mannheim und München
kollidieren mit dem Selbstverständnis der Internet-Gemeinde. Die ist
besonders empfindlich gegenüber staatlichen Eingriffen. Auf dem Spiel
steht, folgt man den amerikanischen Ureinwohnern des Netzes, nichts Geringeres
als die Demokratie.
Gefahr droht nicht nur von deutschen Strafverfolgern. Im vergangenen Monat
zeichnete US-Präsident Bill Clinton ein Gesetz ab, den "Communications
Decency Act" (CDA), der Sitte und Anstand im
amerikanischen
Datenverkehr regeln soll. Auf der schwarzen Liste steht vor allem Pornographie,
aber auch der Gebrauch gewisser englischer Vokabeln wie "shit"
und "fuck".
Als Antwort auf den CDA inszenierte die Netzgemeinschaft
ihren bisher größten Bürgerprotest. Rund sieben Prozent
der WWW-Seiten blieben Anfang Februar dunkel. Auf einigen Seiten prangte
zum Zeichen des Kampfes lediglich eine blaue Schleife - ein Symbol, das
Aktivisten in Anlehnung an die rote Schleife der Aids-Solidarbewegung entworfen
haben.
Inzwischen haben Tausende US-Bürger gegen das neue Gesetz Klage eingereicht.
Die Gerichtsverhandlung hat in erster Instanz vergangene Woche begonnen;
bis zu ihrem Ende ist der Vollzug des CDA ausgesetzt.
Die Proteste dauern an, die blaue Schleife ist im Netz allgegenwärtig.
Eindringlich warnt etwa das elektronische Magazin Hotwired
davor, die Internet-Provider könnten zu "Agenten von Big Brother"
werden. Die Electronic Frontier Foundation,
eine der bekanntesten Online-Lobbygruppen, hält Datenreisende über
die Kampagne auf dem laufenden und ruft für den 30. Juni zu einem Marsch
auf Washington auf. Vorsichtige Netznutzer verschicken ihre Botschaften
schon jetzt am liebsten anonym über sogenannte Remailer.
Das Wüten gegen Verbote zeigt nicht nur die Stärke der neuen
Internationalen,
sondern auch ihre Verletzlichkeit. Zwar gehört es online zum guten
Ton, auf die technische Unverwundbarkeit des Computerverbunds hinzuweisen.
"Das Netz interpretiert Zensur als Störung und sucht eine
Umleitung",
lautet ein vielzitierter Spruch des Internet-Gurus John Gilmore.
Doch ganz sicher sind sich die Vernetzten offenbar nicht. Stichprobenartige
Kontrollen auf dem Datenhighway könnten einen ähnlich sanften
Druck in der Szene erzeugen wie Radarfallen auf der Schnellstraße.
Wenn dann das Netz eine Umleitung sucht, werden viele Nutzer aus Furcht,
erwischt zu werden, nicht mehr folgen wollen.
Schon formieren sich Gruppen, die zwar das blaue Band der freien Rede in
ihrem Erkennungszeichen führen, aber als virtuelle Sheriffs auftreten:
Die "Cyber Angels", ein Ableger der Bürgerwehr-Organisation
"Guardian Angels", wollen im Internet patrouillieren, als wär's
die New Yorker U-Bahn.
Die Pläne der Truppe müssen jedem deutschen Datenschützer
ein Greuel sein. Bei regelmäßigen Netzvisiten wollen die Cyber-Engel
Informationen über Missetäter sammeln, die samt Konterfei an den
Online-Pranger einer WWW-Seite kommen sollen.
Sozial verträglicher ist der Verbraucherschutz, den digitale Filter
am Endgerät bieten. Software mit Produktnamen wie Cyber Patrol, Net
Nanny oder Safe Surf sollen vor allem
Eltern und Lehrern die Möglichkeit geben, ihren Kids den Zutritt zu
jugendgefährdenden Netzregionen zu verwehren.
Großunternehmen wie IBM, Microsoft und Time Warner arbeiten bereits
an einem System, in dem jede Webseite eine Alterskennung bekommt. Loggt
sich ein 12jähriger ins Netz ein, dann bleiben ihm größere
Teile der Cyberwelt verschlossen als einem 16jährigen - vorausgesetzt,
er hat beim Paßwort nicht geschummelt.
Da die Überwachung mit Hilfe zentraler Kontrollrechner erfolgen soll,
fürchten Gegner der universellen Alterskennung, diese Form von Jugendschutz
könnte die staatliche Willkür fördern: Länder mit rigiden
Moralvorstellungen hätten die Möglichkeit, über inländische
Netzrechner nur noch das Kinderprogramm laufen zu lassen.
Daß viele Staaten dem anarchischen Treiben auf dem Internet nicht
länger zusehen wollen, ist gewiß. Und daß sie es fertigbringen,
etwas dagegen zu tun, ist längst erkennbar.
Auf die bange Frage, wie denn Regierungen Kontrolle über den Datenstrom
erlangen können, antwortet der Rechtsanwalt Stewart Baker, ehemals
Berater des US-Geheimdienstes NSA: "Eine Methode ist, es einfach zu
tun." Auch Eric Schmidt, Cheftechnologe der Computerfirma Sun Microsystems,
glaubt nicht an eine schrankenlose Cyberzukunft: "Internet-Betreiber
werden künftig örtlichen Gesetzen unterliegen, und für die
jeweiligen Zensurvorschriften wird es geeignete Software geben."
Die chinesische Regierung bereitet bereits die perfekte Internet-Zensur
vor. Noch nutzen zahllose Dissidenten das Medium, zu dem derzeit rund 100
000 Menschen Zugang haben, als freie Informationsquelle und Verbindungskanal
ins Ausland: "Die Mauer der Demokratie", sagt der Hamburger Redakteur
der chinesischen Oppositionszeitung Geist der Freiheit, Urban Xu, "steht
heute im Cyberspace."
Doch schon bald soll damit Schluß sein. Bis Ende des Monats müssen
sich alle Internet-Nutzer bei der Polizei melden. Verbindungen ins Ausland
dürfen nur noch über die Leitungen des Telekom-Ministeriums laufen.
Um die Zensur zu verschärfen, will die chinesische Regierung obendrein
alle Internet-Computer mit Filtern bestücken, die neben Pornos auch
"für die öffentliche Ordnung schädliche Informationen"
aus dem Datenstrom fischen sollen. "Besser tausend Meldungen fälschlich
töten, als eine einzige falsche Botschaft durchrutschen zu lassen",
wetterte Vizepremier Zhu Rongji.
Ruhiger im Ton, doch ebenfalls hart in der Sache sorgt das autokratisch
regierte Singapur für Sittenstrenge im Netz. "Wir wollen",
so ein Minister des Stadtstaats die Strategie, "das Fenster öffnen,
ohne die Fliegen hineinzulassen."
Die Zensur in Singapur, von der politische Äußerungen genauso
betroffen sind wie Pornographie, wird vom Ministerium für Information
und Kunst ausgeübt. Auf dem Internet-Computer der Telekom von Singapur,
dem einzigen kommerziellen Provider des Landes, sind etliche Newsgroups
gesperrt. An der nationalen Universität gibt es unterschiedliche
Netzzugänge
für Studenten und Professoren, wobei - logisch - der akademische Nachwuchs
stärkeren Einschränkungen unterliegt als die Hochschullehrer.
Zensur durch Technik ist also machbar, und die Masse der User wird sich,
wenn eine Regierung es will, fügen müssen. Perfekte Systeme sind
freilich kaum zu erwarten. Jedes Programm findet seinen Hacker, der es knackt.
Die Computer-Anarchos bewegen sich stets jenseits der Legalität, doch
aus Sicht der Internet-Gemeinde sind die meisten von ihnen keine Kriminellen,
sondern Helden der Cyberfolklore. Als Datenjäger hacken sie sich durch
die Leitungen, immer auf der Suche nach Schwachstellen, an denen sie ihre
digitalen Waffen ausprobieren können.
Beliebtes Ziel der Hacker sind die kommerziellen Online-Dienste, die
Gebühren
für Angebote kassieren, die nach Meinung eingefleischter Datenfreaks
eigentlich umsonst sein sollten. AOL zum Beispiel wurde vergangenen Herbst
in den USA von Info-Freibeutern geplagt, die Programme namens "AOHell"
und "AOL4PHREE" auf interne Rechner pflanzten. Dort stifteten
sie Verwirrung und errichteten Freikonten zur AOL-Benutzung.
Immer wieder liefern sich Hacker mit ihren Gegnern wilde Verfolgungsjagden
durch den Cyberspace. Berühmt wurde der Amerikaner Kevin Mitnick, 32,
der zur Zeit in einer Besserungsanstalt in Los Angeles einsitzt. Mitnick
hackt seit seiner Schulzeit. Er foppte die Air Force ebenso wie
Telefongesellschaften.
Den privaten Anschluß von einem seiner Feinde manipulierte er so,
daß eine Tonbandstimme bei jedem Abheben den Einwurf einer Münze
verlangte.
Ende der achtziger Jahre mußte Mitnick für ein Jahr ins
Gefängnis,
doch nicht lange nach seiner Entlassung hackte er von neuem los.
Schließlich
riskierte er einen Einbruch ins Computersystem des Sicherheitsfachmanns
Tsutomu Shimomura, dem er wertvolle Dateien stibitzte.
Der in Kalifornien lebende Japaner Shimomura nahm die Herausforderung an.
50 Tage lang jagte er den Eindringling durch die Datennetze. Im Februar
vergangenen Jahres führte er die Polizei zu einer Wohnung in Raleigh,
North Carolina. Nach der Festnahme sagte Mitnick im Vorbeigehen zu Shimomura:
"Meine Hochachtung für dein Können."
Über die finanziellen Schäden, die Hacker und Computerkriminelle
anrichten, gibt es nur vage Schätzungen. Daß es allein in Deutschland
um mindestens dreistellige Millionenbeträge geht, halten Experten für
sicher. Genaue Angaben sind schwierig, weil die geprellten Unternehmen nur
selten die Polizei einschalten. Besonders Banken schreiben Schäden
lieber stillschweigend ab oder regeln die Dinge intern, weil die Täter
oft aus den eigenen Reihen stammen.
Obendrein wissen Manager oft nicht, wie unsicher ihre Firmencomputer eigentlich
sind. Eine US-Erhebung aus dem vergangenen Jahr zeigt, daß nur die
Hälfte der Unternehmen, die ans Internet angeschlossen sind, eine
Abschottung
("Firewall") gegen unerwünschte Besucher hat. Allerdings
klagten auch zehn Prozent der gut gerüsteten Firmen über elektronische
Einbrüche.
"Das Zeitalter der Computerkriminalität kommt nicht erst",
sagt Werner Paul, Sachgebietsleiter beim bayerischen Landeskriminalamt:
"Wir befinden uns bereits mittendrin." Zu den neuen Problemen
zählt Paul auch die chiffrierte Kommunikation unter Verbrechern: "Die
heißen Geschäfte wie Waffen oder Rauschgifthandel laufen nicht
mehr über das Telefon, sondern werden verschlüsselt über
die weltweiten Datennetze abgewickelt."
Bundesinnenminister Manfred Kanther schlägt bereits Alarm, auch wenn
spektakuläre Fälle bisher nicht bekanntgeworden sind. Der
Christdemokrat
hält es für "unbezweifelbar, daß die in alle Lebensbereiche
vordringende Informationstechnik das Risiko einer kriminellen Schädigung
spürbar steigert". Vor allem im Internet sieht er eine "gewaltige
Herausforderung für die Strafverfolgungsbehörden".
Damit Polizei und Geheimdienste private E-Mail besser mitlesen können,
erwägt Kanther ein Gesetz über die Anwendung von Kryptographie.
Wenn die Verschlüsselung nur nach einer staatlichen Norm erfolgen
würde,
hätte derjenige, der die Norm setzt, den Generalschlüssel in der
Hand. Schon jetzt chiffrieren freilich zahlreiche User ihre Botschaften
mit Programmen wie Pretty Good Privacy, die kaum zu knacken sind .
Ungeachtet der Sicherheitsbedenken gewinnt das Internet bei Kanthers Bonner
Kollegen täglich neue Freunde. Als Forschungsminister Jürgen
Rüttgers (CDU) Anfang vergangenen Jahres als erster ans Netz ging,
wurde über den Mann noch gelächelt. Seit kurzem ist sogar Helmut
Kohl online, der schon ein Handy für eine Zumutung hält.
Höhepunkt
der Kanzler-Darstellung im WWW ist ein Filmchen von 18 Sekunden Länge.
Wer es sehen will, muß allerdings 1,4 Megabyte aus dem Netz herunterladen
- das kann über eine halbe Stunde dauern.
Die Erotik des neuen Mediums verführt die Bonner Profis vor allem zu
gefälligen Posen. Was man im Datenstrom erleben kann, wissen aus eigener
Erfahrung nur wenige. Unter den Kabinettsmitgliedern beherrscht allein eine
ostdeutsche Frau die Fahrt über die Datenbahn: Familienministerin Claudia
Nolte. Die einstige Kybernetikstudentin hat einen Internet-Anschluß
zu Hause.
Von den 672 Bonner Abgeordneten kennen sich nur wenige in der neuen Datenwelt
aus. Montags stürmt etwa der Bruchsaler SPD-Mann Jörg
Tauss, 42, zuerst zu seinem Computer. Bis zu 200 elektronische Briefe
sind übers Wochenende eingegangen. Ein Wehrdienstverweigerer bittet
um Hilfe, ein Liebestrunkener will ein Visum für seine ukrainische
Freundin, andere geben Ratschläge oder meckern nur mal.
80 Prozent seiner Korrespondenz erledigt der SPD-Mann über den Computer,
Kollegen nennen ihn, früher spöttisch, heute voller Ehrfurcht
"Inter-Tauss". Den direkten Draht nach draußen mag der Politiker
nicht mehr missen. Kritik und Ideen der vernetzten Bürger hätten
ihn "schlicht umgehauen", sagt der Bonner Anfänger, der erst
seit 1994 im Bundestag sitzt.
Visionäre des Netzes träumen bereits von neuen Formen der
Volksherrschaft.
Wenn jeder Haushalt am Draht hängt, können politische Abstimmungen
so häufig stattfinden wie Telefonumfragen zu Fernsehshows. Propagiert
hat die virtuelle Demokratie per Mausklick etwa der US-Milliardär und
frühere Präsidentschaftskandidat Ross Perot.
Realisten allerdings rechnen nicht damit, daß die Cyberwelt in
nächster
Zeit den großen politischen Schub bringt. Auch die rund 80 deutschen
Städte, die WWW-Seiten betreiben, bieten zumeist nicht mehr als
digitale Info-Zettel.
Ein Stückchen vorgewagt hat sich die Stadt
Mannheim, die eine Sonderseite für Neubürger im Netz
bereithält.
Per E-Mail können die künftigen Mannheimer ein Formular des
Einwohnermeldeamts
anfordern. Das Papier bekommen sie dann zugeschickt - per Post.
Im nächsten Heft: Die Zukunft des Internet: Lust und Frust im Datenstau
- Neue Kultur und alte Hüte - Wissen für alle oder Pizza für
wenige?
DER SPIEGEL 13/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des
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