Angst vor der Anarchie

Internet (III): Politik im Cyberspace - Visionäre, Verbrecher und Zensoren kämpfen um Macht

Die Bombenbastler hatten Elektrokabel, Diesel und Düngemittel beiseite geschafft, Material für einen Sprengsatz, den sie bald hochgehen lassen wollten. Ziel ihres Anschlags war die Pine Grove Junior High School in einem Arbeiterviertel von Syracuse (164 000 Einwohner) im US-Bundesstaat New York.

Der Plan, die Schule zu sprengen, flog auf. Anfang vergangenen Monats nahm die Polizei drei 13jährige Jungen als mutmaßliche Täter fest. Mitschüler, die von den Bombenexperimenten der drei Achtkläßler wußten, hatten Alarm gegeben. Kurz zuvor war ein Sprengkörper auf einem Acker nahe einer Grundschule explodiert - offenbar hatten die drei Verdächtigen einen ihrer Diesel-Cocktails ausprobiert.

Auf die Anleitung, wie sich aus harmlosen Grundstoffen eine Bombe herstellen läßt, waren die 13jährigen im Internet gestoßen, das sie an ihren heimischen Computern durchstöberten. Lange suchen mußten sie nicht: Brisante Basteltips sind auf zahllosen Rechnern gespeichert. Zu den wohlbekannten Dateien der Cyberwelt zählt zum Beispiel das "Anarchistische Kochbuch" mit vielen Explosiv-Rezepten.

Die Bombenbauerei von Syracuse verstärkt Befürchtungen, die auch in Deutschland immer mehr Menschen erfassen. Wenn der weltumspannende Datenstrom in Kinder- und Klassenzimmer vordringt und dort die Computer mit gefährlichen Botschaften anfüllt, fühlen sich viele Eltern, Lehrer und Politiker überfordert und bedroht.

Die Ängste sind verständlich, auch wenn jene, die in die elektronische Wunderwelt eingeweiht sind, sie zumeist für übertrieben halten. Wer sich ins Internet einloggt, begibt sich in ein Reich der Anarchie, in dem jeder über alles sprechen kann - aber niemand hat das Sagen. In dieser Metropolis ohne Mittelpunkt liegen die Schmuddelecken gleich neben den Villenvierteln, politische Extremisten marschieren ebenso frei über die Straßen wie der deutsche Bundeskanzler oder bekiffte Propheten, die von "Peace, Love & Unity" jetzt sofort für alle künden.

Auf jeder Seite des World Wide Web (WWW), dem belebtesten Marktplatz im globalen Netz, lauert ein Angebot - womöglich ein unsittliches. Und hinter den bunten WWW-Oberflächen liegt ein Schattenreich, das sich fast jedem staatlichen Zugriff entzieht: eine Welt digitaler Waffen, verschlüsselter Botschaften und gerissener Datenjäger.

Hacker dringen durch Telefonleitungen in fremde Computer ein, Verbrecher verabreden am Rande des Datenhighways kriminelle Geschäfte. Und auch die Geheimdienste, die ihre mehr oder minder legitime Neugier befriedigen wollen, schwimmen im globalen Info-Strom wie Fische im Trüben.

Es gibt, so scheint es, viel zu regeln im größten und verworrensten Kommunikationssystem, das auf der Erde installiert ist. Doch niemand weiß genau, welche Regeln gelten sollen. Und ob sie, wenn es sie gäbe, überhaupt durchsetzbar wären, ist erst recht unbekannt.

In einer Mischung aus Respekt, Verwunderung und Sorge starren Parlamentarier und Juristen auf die neue bunte Cyber-Welt, die sich auch in Deutschland immer schneller ausbreitet. Zwar denken Bonner Politiker bereits über ein Multimedia-Gesetz nach, doch außer einem Namen ist den Ministerialen dazu noch nicht viel eingefallen.

In ihrer Not versuchen deutsche Staatsanwälte, die bestehenden Gesetze auf das globale Netz anzuwenden. Doch so recht passen wollen die Paragraphen nicht. Die Verfahren sind zwar noch anhängig, haben den Beamten aber schon eine Menge Ärger eingebracht. Selbst Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) sieht die Chancen für eine Verurteilung als ungewiß.

Ende 1995 leiteten Ermittler in München ein Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des Online-Dienstes Compuserve ein. Das Unternehmen verschafft wie auch andere Netzwerker seinen Kunden Zugang zum Internet.

Die Münchner Fahnder stießen sich an sogenannten Newsgroups, virtuellen Treffpunkten, an denen sich die User mit allerhand Nützlichem und viel Unnützem versorgen können - darunter auch verbotener Pornographie. Die Staatsanwälte übergaben den Compuserve-Managern eine Liste mit rund 200 Newsgroups, deren Titel Jugendgefährdendes versprachen.

Die Compuserve-Zentrale im US-Bundesstaat Ohio reagierte prompt. Sie sperrte auf ihrem Zentralrechner den Zugang zu den beanstandeten Internet-Gruppen, über die etwa Kinderschänder Texte und Bilder aller Art feilboten.

Die Maßnahme löste einen weltweiten Proteststurm aus. Internet-Freidenker demonstrierten gegen Zensur, die bayerische Justiz und den willfährigen Netzanbieter Compuserve. Mitglieder der Gruppe "Amerikaner für Schwulenrechte" riefen zum Boykott von deutschem Bier auf.

Inzwischen sind die meisten inkriminierten Newsgroups zwar wieder zugeschaltet, nur fünf Hardcore-Gruppen bleiben gesperrt. Doch die Kernfrage ist noch ungeklärt: Muß der Anbieter eines Internet-Zugangs auch Verantwortung für die auf dem weltweiten Netz abrufbaren Inhalte übernehmen?

Wenn ja, dann käme ein Anbieter - im Fachjargon Provider genannt - einem Kioskbetreiber gleich, der zwar auch nicht jede Zeitschrift einzeln prüfen muß, aber keine verbotenen Blätter verkaufen darf. Wenn nein, wäre der Provider wie die Telekom oder wie die Post einzustufen, die weder für obszöne Anrufe noch für frei Haus gelieferte Briefbomben verantwortlich sind.

Um eine Entscheidung haben sich Parlamente und Gerichte in Deutschland bisher gedrückt. Politiker aller Couleur wollen die Internet-Anbieter am liebsten von Restriktionen frei halten.

So sieht der liberale Justizminister Schmidt-Jortzig im Cyberspace einen "Raum, wo jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann" (SPIEGEL 11/1996). Auch die konservative bayerische Staatsregierung erklärt, "daß nicht generell die Anbieter von Zugängen zum Internet für alle Inhalte des Netzwerks verantwortlich sind".

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber betreibt zweideutige Politik. Zwar eifert der CSU-Politiker gegen Schmutz aus dem Internet. Doch vor allem denkt der Landeschef an die heimische Wirtschaft, der er mit seiner "Offensive Zukunft Bayern" ein "in ganz Deutschland einzigartiges Innovationsprogramm" verschreiben will. Stoibers Kronzeuge ist Franz Josef Strauß selig. Der einstige große CSU-Vorsitzende kommt auf den WWW-Seiten der bayerischen Staatsregierung mit dem Aphorismus zu Wort: "Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren." Strenge Moral ist da mitunter störend.

Zum bayerischen Fortschritt gehört, daß jeder Bewohner des Landes auf Wunsch einen kostenlosen Internet-Zugang bekommen soll: Schon kommenden Monat nimmt das sogenannte Bayernnetz seinen vollen Betrieb auf. Dann ist der Freistaat Provider - Pornos inklusive.

Weil er für den Schweinkram aus der Buchse keine Verantwortung übernehmen will, drängt Stoiber auf "international wirksame Vereinbarungen, um die weltweite Verbreitung von Pornographie und Gewaltkriminalität zu unterbinden". Wie das gehen soll, muß erst noch eine Arbeitsgruppe klären.

Die weltweite Ächtung bestimmter pornographischer Darstellungen könnte zwar mit viel Mühe gelingen, da Praktiken wie Sex mit Kindern kaum irgendwo toleriert werden. Ziemlich allein aber bleibt die deutsche Justiz bei einem nationalen Sonderthema: der Verfolgung von Rechtsextremisten, die in den Datennetzen ihr Unwesen treiben.

Die Staatsanwaltschaft in Mannheim hat trotz schwieriger Gesetzeslage ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die badischen Beamten hatten entdeckt, daß Neonazis wie Ernst Zündel und Fred Leuchter, die in Kanada und den USA ansässig sind, ihre in Deutschland verbotene Propaganda längst via Internet verbreiten - ganz einfach abrufbar von jedem Anschluß.

Die Strafverfolger ermitteln nicht nur gegen die altbekannten Extremisten, die in Amerika vor deutschen Behörden sicher sind, sondern auch gegen die drei größten inländischen Online-Dienste Compuserve, T-Online und AOL Bertelsmann Online. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zur Volksverhetzung.

Der Mannheimer Staatsanwalt Hans-Heiko Klein, der auch gegen extremistische Mailboxen vorgeht (siehe Grafik), stützt sich auf seine Amtspflicht: "Wenn draußen jemand Nazischriften verteilt, muß ich hinterher. Es kann doch nicht sein, daß sich einer das gleiche Zeug gemütlich auf seinen Computer lädt und grinst."

Der Provider T-Online blockierte nach dem Vorstoß der Staatsanwaltschaft prompt alle Verbindungen zum Internet-Rechner "Webcom" in Kalifornien, auf dem Zündels elektronisches Archiv lagert - gemeinsam mit den Daten von rund 1500 anderen Programmanbietern.

Doch trotz der Sperre blieben die Dateien des Neonazis über T-Online abrufbar. Amerikanische Studenten, selbsternannte Kämpfer für die Meinungsfreiheit, kopierten Zündels braune Hetzschriften auf ihre Universitätsrechner. Die Inhalte waren für sie Nebensache, es ging ums Prinzip, erklärte ein Student der Carnegie Mellon Universität in Pennsylvania: "Ich bin gegen Zensur."

Die Vorstöße der Strafverfolger in Mannheim und München kollidieren mit dem Selbstverständnis der Internet-Gemeinde. Die ist besonders empfindlich gegenüber staatlichen Eingriffen. Auf dem Spiel steht, folgt man den amerikanischen Ureinwohnern des Netzes, nichts Geringeres als die Demokratie.

Gefahr droht nicht nur von deutschen Strafverfolgern. Im vergangenen Monat zeichnete US-Präsident Bill Clinton ein Gesetz ab, den "Communications Decency Act" (CDA), der Sitte und Anstand im amerikanischen Datenverkehr regeln soll. Auf der schwarzen Liste steht vor allem Pornographie, aber auch der Gebrauch gewisser englischer Vokabeln wie "shit" und "fuck".

Als Antwort auf den CDA inszenierte die Netzgemeinschaft ihren bisher größten Bürgerprotest. Rund sieben Prozent der WWW-Seiten blieben Anfang Februar dunkel. Auf einigen Seiten prangte zum Zeichen des Kampfes lediglich eine blaue Schleife - ein Symbol, das Aktivisten in Anlehnung an die rote Schleife der Aids-Solidarbewegung entworfen haben.

Inzwischen haben Tausende US-Bürger gegen das neue Gesetz Klage eingereicht. Die Gerichtsverhandlung hat in erster Instanz vergangene Woche begonnen; bis zu ihrem Ende ist der Vollzug des CDA ausgesetzt.

Die Proteste dauern an, die blaue Schleife ist im Netz allgegenwärtig. Eindringlich warnt etwa das elektronische Magazin Hotwired davor, die Internet-Provider könnten zu "Agenten von Big Brother" werden. Die Electronic Frontier Foundation, eine der bekanntesten Online-Lobbygruppen, hält Datenreisende über die Kampagne auf dem laufenden und ruft für den 30. Juni zu einem Marsch auf Washington auf. Vorsichtige Netznutzer verschicken ihre Botschaften schon jetzt am liebsten anonym über sogenannte Remailer.

Das Wüten gegen Verbote zeigt nicht nur die Stärke der neuen Internationalen, sondern auch ihre Verletzlichkeit. Zwar gehört es online zum guten Ton, auf die technische Unverwundbarkeit des Computerverbunds hinzuweisen. "Das Netz interpretiert Zensur als Störung und sucht eine Umleitung", lautet ein vielzitierter Spruch des Internet-Gurus John Gilmore.

Doch ganz sicher sind sich die Vernetzten offenbar nicht. Stichprobenartige Kontrollen auf dem Datenhighway könnten einen ähnlich sanften Druck in der Szene erzeugen wie Radarfallen auf der Schnellstraße. Wenn dann das Netz eine Umleitung sucht, werden viele Nutzer aus Furcht, erwischt zu werden, nicht mehr folgen wollen.

Schon formieren sich Gruppen, die zwar das blaue Band der freien Rede in ihrem Erkennungszeichen führen, aber als virtuelle Sheriffs auftreten: Die "Cyber Angels", ein Ableger der Bürgerwehr-Organisation "Guardian Angels", wollen im Internet patrouillieren, als wär's die New Yorker U-Bahn.

Die Pläne der Truppe müssen jedem deutschen Datenschützer ein Greuel sein. Bei regelmäßigen Netzvisiten wollen die Cyber-Engel Informationen über Missetäter sammeln, die samt Konterfei an den Online-Pranger einer WWW-Seite kommen sollen.

Sozial verträglicher ist der Verbraucherschutz, den digitale Filter am Endgerät bieten. Software mit Produktnamen wie Cyber Patrol, Net Nanny oder Safe Surf sollen vor allem Eltern und Lehrern die Möglichkeit geben, ihren Kids den Zutritt zu jugendgefährdenden Netzregionen zu verwehren.

Großunternehmen wie IBM, Microsoft und Time Warner arbeiten bereits an einem System, in dem jede Webseite eine Alterskennung bekommt. Loggt sich ein 12jähriger ins Netz ein, dann bleiben ihm größere Teile der Cyberwelt verschlossen als einem 16jährigen - vorausgesetzt, er hat beim Paßwort nicht geschummelt.

Da die Überwachung mit Hilfe zentraler Kontrollrechner erfolgen soll, fürchten Gegner der universellen Alterskennung, diese Form von Jugendschutz könnte die staatliche Willkür fördern: Länder mit rigiden Moralvorstellungen hätten die Möglichkeit, über inländische Netzrechner nur noch das Kinderprogramm laufen zu lassen.

Daß viele Staaten dem anarchischen Treiben auf dem Internet nicht länger zusehen wollen, ist gewiß. Und daß sie es fertigbringen, etwas dagegen zu tun, ist längst erkennbar.

Auf die bange Frage, wie denn Regierungen Kontrolle über den Datenstrom erlangen können, antwortet der Rechtsanwalt Stewart Baker, ehemals Berater des US-Geheimdienstes NSA: "Eine Methode ist, es einfach zu tun." Auch Eric Schmidt, Cheftechnologe der Computerfirma Sun Microsystems, glaubt nicht an eine schrankenlose Cyberzukunft: "Internet-Betreiber werden künftig örtlichen Gesetzen unterliegen, und für die jeweiligen Zensurvorschriften wird es geeignete Software geben."

Die chinesische Regierung bereitet bereits die perfekte Internet-Zensur vor. Noch nutzen zahllose Dissidenten das Medium, zu dem derzeit rund 100 000 Menschen Zugang haben, als freie Informationsquelle und Verbindungskanal ins Ausland: "Die Mauer der Demokratie", sagt der Hamburger Redakteur der chinesischen Oppositionszeitung Geist der Freiheit, Urban Xu, "steht heute im Cyberspace."

Doch schon bald soll damit Schluß sein. Bis Ende des Monats müssen sich alle Internet-Nutzer bei der Polizei melden. Verbindungen ins Ausland dürfen nur noch über die Leitungen des Telekom-Ministeriums laufen.

Um die Zensur zu verschärfen, will die chinesische Regierung obendrein alle Internet-Computer mit Filtern bestücken, die neben Pornos auch "für die öffentliche Ordnung schädliche Informationen" aus dem Datenstrom fischen sollen. "Besser tausend Meldungen fälschlich töten, als eine einzige falsche Botschaft durchrutschen zu lassen", wetterte Vizepremier Zhu Rongji.

Ruhiger im Ton, doch ebenfalls hart in der Sache sorgt das autokratisch regierte Singapur für Sittenstrenge im Netz. "Wir wollen", so ein Minister des Stadtstaats die Strategie, "das Fenster öffnen, ohne die Fliegen hineinzulassen."

Die Zensur in Singapur, von der politische Äußerungen genauso betroffen sind wie Pornographie, wird vom Ministerium für Information und Kunst ausgeübt. Auf dem Internet-Computer der Telekom von Singapur, dem einzigen kommerziellen Provider des Landes, sind etliche Newsgroups gesperrt. An der nationalen Universität gibt es unterschiedliche Netzzugänge für Studenten und Professoren, wobei - logisch - der akademische Nachwuchs stärkeren Einschränkungen unterliegt als die Hochschullehrer.

Zensur durch Technik ist also machbar, und die Masse der User wird sich, wenn eine Regierung es will, fügen müssen. Perfekte Systeme sind freilich kaum zu erwarten. Jedes Programm findet seinen Hacker, der es knackt.

Die Computer-Anarchos bewegen sich stets jenseits der Legalität, doch aus Sicht der Internet-Gemeinde sind die meisten von ihnen keine Kriminellen, sondern Helden der Cyberfolklore. Als Datenjäger hacken sie sich durch die Leitungen, immer auf der Suche nach Schwachstellen, an denen sie ihre digitalen Waffen ausprobieren können.

Beliebtes Ziel der Hacker sind die kommerziellen Online-Dienste, die Gebühren für Angebote kassieren, die nach Meinung eingefleischter Datenfreaks eigentlich umsonst sein sollten. AOL zum Beispiel wurde vergangenen Herbst in den USA von Info-Freibeutern geplagt, die Programme namens "AOHell" und "AOL4PHREE" auf interne Rechner pflanzten. Dort stifteten sie Verwirrung und errichteten Freikonten zur AOL-Benutzung.

Immer wieder liefern sich Hacker mit ihren Gegnern wilde Verfolgungsjagden durch den Cyberspace. Berühmt wurde der Amerikaner Kevin Mitnick, 32, der zur Zeit in einer Besserungsanstalt in Los Angeles einsitzt. Mitnick hackt seit seiner Schulzeit. Er foppte die Air Force ebenso wie Telefongesellschaften. Den privaten Anschluß von einem seiner Feinde manipulierte er so, daß eine Tonbandstimme bei jedem Abheben den Einwurf einer Münze verlangte.

Ende der achtziger Jahre mußte Mitnick für ein Jahr ins Gefängnis, doch nicht lange nach seiner Entlassung hackte er von neuem los. Schließlich riskierte er einen Einbruch ins Computersystem des Sicherheitsfachmanns Tsutomu Shimomura, dem er wertvolle Dateien stibitzte.

Der in Kalifornien lebende Japaner Shimomura nahm die Herausforderung an. 50 Tage lang jagte er den Eindringling durch die Datennetze. Im Februar vergangenen Jahres führte er die Polizei zu einer Wohnung in Raleigh, North Carolina. Nach der Festnahme sagte Mitnick im Vorbeigehen zu Shimomura: "Meine Hochachtung für dein Können."

Über die finanziellen Schäden, die Hacker und Computerkriminelle anrichten, gibt es nur vage Schätzungen. Daß es allein in Deutschland um mindestens dreistellige Millionenbeträge geht, halten Experten für sicher. Genaue Angaben sind schwierig, weil die geprellten Unternehmen nur selten die Polizei einschalten. Besonders Banken schreiben Schäden lieber stillschweigend ab oder regeln die Dinge intern, weil die Täter oft aus den eigenen Reihen stammen.

Obendrein wissen Manager oft nicht, wie unsicher ihre Firmencomputer eigentlich sind. Eine US-Erhebung aus dem vergangenen Jahr zeigt, daß nur die Hälfte der Unternehmen, die ans Internet angeschlossen sind, eine Abschottung ("Firewall") gegen unerwünschte Besucher hat. Allerdings klagten auch zehn Prozent der gut gerüsteten Firmen über elektronische Einbrüche.

"Das Zeitalter der Computerkriminalität kommt nicht erst", sagt Werner Paul, Sachgebietsleiter beim bayerischen Landeskriminalamt: "Wir befinden uns bereits mittendrin." Zu den neuen Problemen zählt Paul auch die chiffrierte Kommunikation unter Verbrechern: "Die heißen Geschäfte wie Waffen oder Rauschgifthandel laufen nicht mehr über das Telefon, sondern werden verschlüsselt über die weltweiten Datennetze abgewickelt."

Bundesinnenminister Manfred Kanther schlägt bereits Alarm, auch wenn spektakuläre Fälle bisher nicht bekanntgeworden sind. Der Christdemokrat hält es für "unbezweifelbar, daß die in alle Lebensbereiche vordringende Informationstechnik das Risiko einer kriminellen Schädigung spürbar steigert". Vor allem im Internet sieht er eine "gewaltige Herausforderung für die Strafverfolgungsbehörden".

Damit Polizei und Geheimdienste private E-Mail besser mitlesen können, erwägt Kanther ein Gesetz über die Anwendung von Kryptographie. Wenn die Verschlüsselung nur nach einer staatlichen Norm erfolgen würde, hätte derjenige, der die Norm setzt, den Generalschlüssel in der Hand. Schon jetzt chiffrieren freilich zahlreiche User ihre Botschaften mit Programmen wie Pretty Good Privacy, die kaum zu knacken sind .

Ungeachtet der Sicherheitsbedenken gewinnt das Internet bei Kanthers Bonner Kollegen täglich neue Freunde. Als Forschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) Anfang vergangenen Jahres als erster ans Netz ging, wurde über den Mann noch gelächelt. Seit kurzem ist sogar Helmut Kohl online, der schon ein Handy für eine Zumutung hält. Höhepunkt der Kanzler-Darstellung im WWW ist ein Filmchen von 18 Sekunden Länge. Wer es sehen will, muß allerdings 1,4 Megabyte aus dem Netz herunterladen - das kann über eine halbe Stunde dauern.

Die Erotik des neuen Mediums verführt die Bonner Profis vor allem zu gefälligen Posen. Was man im Datenstrom erleben kann, wissen aus eigener Erfahrung nur wenige. Unter den Kabinettsmitgliedern beherrscht allein eine ostdeutsche Frau die Fahrt über die Datenbahn: Familienministerin Claudia Nolte. Die einstige Kybernetikstudentin hat einen Internet-Anschluß zu Hause.

Von den 672 Bonner Abgeordneten kennen sich nur wenige in der neuen Datenwelt aus. Montags stürmt etwa der Bruchsaler SPD-Mann Jörg Tauss, 42, zuerst zu seinem Computer. Bis zu 200 elektronische Briefe sind übers Wochenende eingegangen. Ein Wehrdienstverweigerer bittet um Hilfe, ein Liebestrunkener will ein Visum für seine ukrainische Freundin, andere geben Ratschläge oder meckern nur mal.

80 Prozent seiner Korrespondenz erledigt der SPD-Mann über den Computer, Kollegen nennen ihn, früher spöttisch, heute voller Ehrfurcht "Inter-Tauss". Den direkten Draht nach draußen mag der Politiker nicht mehr missen. Kritik und Ideen der vernetzten Bürger hätten ihn "schlicht umgehauen", sagt der Bonner Anfänger, der erst seit 1994 im Bundestag sitzt.

Visionäre des Netzes träumen bereits von neuen Formen der Volksherrschaft. Wenn jeder Haushalt am Draht hängt, können politische Abstimmungen so häufig stattfinden wie Telefonumfragen zu Fernsehshows. Propagiert hat die virtuelle Demokratie per Mausklick etwa der US-Milliardär und frühere Präsidentschaftskandidat Ross Perot.

Realisten allerdings rechnen nicht damit, daß die Cyberwelt in nächster Zeit den großen politischen Schub bringt. Auch die rund 80 deutschen Städte, die WWW-Seiten betreiben, bieten zumeist nicht mehr als digitale Info-Zettel.

Ein Stückchen vorgewagt hat sich die Stadt Mannheim, die eine Sonderseite für Neubürger im Netz bereithält. Per E-Mail können die künftigen Mannheimer ein Formular des Einwohnermeldeamts anfordern. Das Papier bekommen sie dann zugeschickt - per Post.

Im nächsten Heft: Die Zukunft des Internet: Lust und Frust im Datenstau - Neue Kultur und alte Hüte - Wissen für alle oder Pizza für wenige?

DER SPIEGEL 13/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags
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